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Achtsame Kommunikation

Weißes Kreuz – Zeitschrift für Lebensfragen,  Ausgabe 11 / 2006

Neue Wege achtsamer Kommunikation:

Streiten ohne zu verletzen

Hartmut Schäffer

 

1. Verbale Gewalt

Geißböcke tun es, Menschen tun es, schon Moleküle tun es: Sie stoßen zusammen, machen sich die Plätze streitig, kämpfen um Einfluss und um Durchsetzung ihrer Interessen. Konflikte sind jederzeit zu erwarten. Doch nur der Mensch kann sich die Frage stellen: Wie gehe ich im Konfliktfall mit meinem Gegner um?

 In unserer Zeit und Gesellschaft sind körperliche Gewalt zur Durchsetzung von Interessen eher verpönt. Kriegerische Auseinandersetzungen, Schlägereien, ja selbst der Klaps auf den Po des zu erziehenden Kindes erscheinen uns als Konfliktlösungsstrategie ungeeignet. So haben wir uns auf die verbale Kriegsführung verlegt. In ihr hallen die Muster physischer Gewaltanwendung noch nach. Ob Politik, Wirtschaft oder Sport: Es wimmelt nur so von verbalen Tätlichkeiten. Da bekommt die Regierung von der Opposition „eine schallende Ohrfeige“ verabreicht. Der Konzernchef ist „angeschlagen“, steht „vor dem KO“. Gewerkschaft und Arbeitnehmerverband „suchen den offenen Schlagabtausch“. Der FC Großstadt hat den Gegner „geschlagen“ oder gar „aus dem Weg geräumt“.

 Seit einigen Jahren (eigentlich schon seit Jahrzehnten) steigt das Bewusstsein dafür, dass auch Worte Tätlichkeiten darstellen können. Man spricht dann von verbaler Gewalt. Sie zu definieren ist nicht schwer: Gewalt übt aus, wer verletzt. Worte können sehr verletzen – die gesprochenen und manchmal auch die unausgesprochenen. Dabei können seelische Verletzungen durchaus schwerer wiegen als körperliche.

 Eine offensichtliche und besonders ernste Form der verbalen Gewalt ist das Mobbing. Arbeitskollegen, aber auch Chefs und Untergebene verletzen einander, indem sie bestimmte Personen ausgrenzen, hänseln, ihnen unlautere Motive unterstellen, indem sie ihnen also gezielt und kontinuierlich abschätzig begegnen. Die Folgen reichen von psychischer Isolation über massive seelische Verletzungen bis zum Selbstmord. Der menschliche, aber natürlich auch der wirtschaftliche Schaden, der durch Mobbing entsteht, ist immens.

 Auch in den christlichen Gemeinden ist verbale Gewalt keine unbekannte Größe. Auch hier geschieht Ausgrenzung, Abwertung oder Bevormundung. Auch hier sind die zynischen, spitzen oder gar gehässigen Bemerkungen zu hören, die sich wie Stachel tief in die Seele graben und sehr schwer wieder zu entfernen sind. Auch hier verletzen sich Menschen durch unsachliche oder übertriebene Kritik, durch arrogantes oder aggressives Verhalten, durch Spott oder üble Nachrede. Vielleicht  mehr noch als anderswo findet man unter Christen unlauteres Mitleid („Deine Scheidung hat mich sehr betroffen gemacht – erzähl doch mal…“) oder unlautere Sorge. So kann sich der Satz „ich werde für dich beten“ unter Umständen durchaus wie eine Drohung anhören: Wenn du dein Verhalten nicht änderst (wenn also meine Gebete keinen Erfolg hatten), dann  wird das Konsequenzen haben.

Dem Thema „verbale Gewalt“ wird in der Bibel viel Raum gegeben. So heißt es in den Psalmen: Herr, errette mich von den Lügenmäulern, von den falschen Zungen… Es wird meiner Seele lang, zu wohnen bei denen, die den Frieden hassen. (Ps. 120, 2 + 6). Und Jeremia klagt über sein Volk: Sie schießen mit ihrer Zunge lauter Lüge und keine Wahrheit und treiben’s mit Gewalt im Lande und gehen von einer Bosheit zur anderen, mich aber achten sie nicht, spricht der Herr (Jer.9,2). Ähnliche Gedanken äußert Jakobus: So ist auch die Zunge ein kleines Glied und richtet große Dinge an. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet’s an! (Jak.3,5)

Wie gehe ich im Konfliktfall mit meinem Gegner um? Wenn körperliche und auch verbale Gewalt ausscheiden, wie kann ich dann meine berechtigten Interessen wahren?

2. Achtsame Kommunikation

In dem Maße, in dem ein Bewusstsein für verbale Gewalt entstand, entwickelten sich Konzepte zu ihrer Überwindung. Sie können unter dem Begriff „gewaltfreie Kommunikation“ oder auch „achtsame Kommunikation“ zusammengefasst werden. Ein Vorreiter dieses Denkens war der Psychologe (und Theologe!) Carl Rogers, Begründer der klientenzentrierten Psychotherapie. Zu seinen profiliertesten Schülern gehören Thomas Gordon, dessen „Familientraining“ eine achtsame Kommunikation zum Mittelpunkt hat, und Marshall Rosenberg mit seinem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation. Daneben zu nennen wären Abraham Maslow (bedürfnisorientierte Therapie), Roger Fisher (Harvard-Konzept), Maria Montessori (Montessori-Pädagogik) und viele andere. Sie alle eint eine große Wertschätzung des Individuums und die Erfahrung, dass Menschen im achtsamen Miteinander ihre Interessen nicht aufgeben müssen, sondern sie im Gegenteil besser und vor allem beziehungs­erhaltender erfüllt bekommen. Deshalb ist achtsame Kommunikation auch nicht in erster Linie ein Konzept oder eine Methode. Sie ist eine Grundhaltung, die allerdings der Einübung bedarf.

Am Anfang einer achtsamen Kommunikationshaltung steht nicht das Reden, sondern das Hören. Im „aktiven Zuhören“ konzentriere ich mich auf die Gedanken des anderen. Als „aktiv“ ist dabei meine Rückmeldung zu verstehen: Ich signalisiere Verstehen und überprüfe sicherheitshalber das Gehörte. Denn ich kann nicht davon ausgehen, schon zu wissen, was der andere sagen will und meint. Dazu ein Beispiel.

Chorleiter zum Pastor:
Die heutige Probe war echt chaotisch. Mann, die Frau Müller könnte ich auf den Mond schießen! Erst kommt sie zu spät wie immer, dann quasselt sie in einer Tour mit Nebenfrau und Hintermann. Keiner konnte sich konzentrieren. Allmählich habe ich keine Lust mehr. Du wirst dir bald einen anderen suchen müssen, der diesen Job macht!

Pastor:
Mensch Fritz, das wirst Du mir doch nicht antun! Wer soll denn sonst den Chor leiten! Das kann doch keiner besser als du!

Wir merken schon: Da hat einer nicht gut zugehört. Der Pastor ist gleich bei sich und seinen Problemen. Schließlich schmückt er sich ja auch selbst ein wenig mit dem ganz passablen Chor! Den will er nicht verlieren! Und so setzt er seinen Chorleiter gleich gehörig unter Druck: Wenn du nicht weitermachst, dann tust du mir weh! Und das muss dir dein Gewissen verbieten! Außerdem: Keiner kann das besser als du . Wenn du aufhörst, versündigst du dich an deinem Talent!

Aktives Zuhören dagegen heißt, das Gehörte sowohl auf der Sachebene als auch auf der Gefühls- und Bedürfnisebene wahrnehmen und rückmelden:

Pastor:
Ich höre bei dir viel Ärger und Frust, Fritz. Du hast dich gut vorbereitet und dann bringt dir die Frau Müller alles durcheinander. Jetzt bist du enttäuscht und fragst dich, ob du da noch an der richtigen Stelle bist.

Viel besser! Der Pastor stellt seine eigenen Interessen zurück. Er bietet auch keinen Rat an, sondern spiegelt erst mal nur das Wahrgenommene. So fühlt sich Fritz gehört und verstanden. Die Rückmeldung seines Ärgers tut ihm gut. Und er darf die Freiheit haben, über sein zukünftiges Engagement selber nachzudenken. Eigentlich denkt er auch gar nicht ans Aufhören, sondern wollte mit dieser „Drohung“ nur seinen Unmut artikulieren. Deshalb kommt es zu dieser Erwiderung:

Chorleiter:
Ja, manchmal möchte ich alles hinschmeißen. Aber nicht wirklich. Der Chor macht ja auch viel Freude. Und es tut gut, dass du meine Enttäuschung verstehen kannst! Jetzt müssen wir aber wirklich mal ein Mittel finden, Frau Müller ruhiger zu stellen…

Die Sorge des Pastors, seinen Chorleiter zu verlieren, war also unbegründet. Und durch die verständnisvolle, zugewandte Art seines Pastors bekommt Fritz gleich eine kleine Motiva­tions­­spritze. Wie hätte er auf die erste Antwort reagiert? Vielleicht so:

Pastor:
Mensch Fritz, das wirst Du mir doch nicht antun! Wer soll denn sonst den Chor leiten! Das kann doch keiner besser als du!

Chorleiter:
Das kann schon sein. Aber ich fühle mich in meiner Arbeit einfach alleingelassen. Ich kann mir auch eine weniger nervenaufreibende Tätigkeit vorstellen…

Das Zuhören kommt also vor dem Reden. Und beim Reden gilt: Akzeptiere dein Gegenüber, auch wenn seine Meinung oder ihre Interessen von den deinen abweichen. Setze dein Gegenüber nicht unter Druck. Erlaube ihm oder ihr eine eigene Perspektive:

Also das ist ja fürchterlich heiß hier. Kann mal jemand das Fenster aufmachen?!

Mit diesem Satz setze ich voraus, dass alle so empfinden wie ich. Wie heiß ist es wirklich? Bin ich vielleicht empfindlicher als die anderen? Sind sie vielleicht sogar froh über wohlige Wärme? Anstatt alle mit meiner Behauptung „es ist heiß“ zu vereinnahmen, könnte ich mein Problem auch so formulieren, dass es als MEIN Empfinden und als MEIN Wunsch erkennbar wird:

Mir ist heiß. Geht es euch auch so? Hättet ihr etwas dagegen, wenn wir ein Fenster öffnen?

Noch ein Beispiel:

Weißt du eigentlich, dass ich seit deinem Umzug unendlich viel Zeugs von dir  in meinem Auto spazieren fahre?! Also  ich bin wirklich nicht dein Taxi. Vielleicht könntest du dich mal herablassen und die Klamotten wie versprochen abholen!

Dieser Satz fordert geradewegs dazu auf, eine Aggressionsspirale in Gang zu setzen:

Wie bist du denn heute drauf! Du tust ja so, als ob ich dir ein großes Unrecht angetan hätte! Im übrigen hast du von mir schon seit einem Jahr die CD vom letzten Chorkonzert. Also tu nicht so!

Wie diese Unterhaltung weitergeht, können wir uns lebhaft vorstellen. Jede spitze Bemerkung sticht und führt zu Vergeltungsaktionen.

Achtsame Kommunikation könnte so aussehen:

Seit deinem Umzug habe ich deinen Werkzeugkasten und die Tragegurte im Auto. Du wolltest sie gleich am nächsten Tag abholen. Jetzt werde ich ungeduldig und ärgerlich, weil wir ja nun in den Urlaub fahren und den Platz brauchen. Können wir einen Termin vereinbaren, an dem du die Sachen holen kommst?

Ein ganz wichtiger Unterschied zur ersten Version: Mein Ärger steckt nicht im rüden Tonfall und damit zwischen den Zeilen, sondern wird benannt und begründet. So ist er leichter nachzuvollziehen und anzunehmen. Achtsame Kommunikation blendet meine unguten Gefühle also nicht aus, so dass ich sie hinunterschlucken müsste. Damit ist mir UND meinem Gegenüber geholfen: Ich darf die Gefühle haben (Gefühle lassen sich ohnehin nicht direkt beeinflussen); sie benennen statt sie auszuleben, macht sie „verdaubarer“.

Achtsame Kommunikation hat mit Höflichkeit zu tun. Merkwürdigerweise sind wir oft zu Fremden höflicher als zu den Menschen, die uns in Familie und Gemeinde besonders nahe stehen. Aus unerfindlichen Gründen meinen wir, mit Menschen, die wir lieben (und die uns lieben) rauher umgehen zu können. Bei ihnen darf ich sein „wie ich bin“ (also aggressiv, nörgelnd, aufbrausend, egoistisch…?!). Er/sie liebt mich, er/sie versteht mich. Höflichkeit im familiären Umfeld empfinden wir oft als aufgesetzt oder unnatürlich. Das Ergebnis: verbale Gewalt, Verletzungen, vielleicht sogar der Verlust gegenseitiger Achtung.

Wahre Liebe dagegen ist achtsam – auch im Ton. Wahre Liebe und „sich gehen lassen“ passen nicht zusammen. Der umgekehrte Impuls sollte uns leiten: An mir nahe stehenden Menschen kann ich die Achtsamkeit und Höflichkeit einüben, die ich Fremden gegenüber brauche. In den Kommunikationsregeln der Mediation (Konfliktvermittlung) heißt es: „Behandelt einander mit Wertschätzung oder zumindest mit gegenseitigem Respekt“. Diese Grundhaltung würde so manchen Konflikt schon im Keim ersticken.

3. Vom Konfliktgegner zum Konfliktpartner

Besonders schwer fällt uns achtsame Kommunikation dann, wenn der Streit ernst wird, wenn unsere Beziehung zum Streitgegner in Frage gestellt ist. Wir erleben schwere Konflikte als Krisen. Sie stören nicht nur unser allgemeines Harmoniebestreben, sondern werden oft als persönliche Angriffe empfunden. Sie verletzen, soweit wir angegriffen werden, unser Ego. Sie stellen uns in Frage. Jede Kritik reizt zur gereizten Antwort. Je nach Veranlagung oder Konditionierung reagieren wir in einem Konflikt, an dem wir beteiligt sind, mit eisigem, verletztem Schweigen, mit lautem Aufbrausen oder mit Verdrängung. Wie viele Konflikte haben wir schon unbe­arbeitet unter den Teppich gekehrt? Dort beginnen sie zu modern und machen sich vielleicht schließlich in einer Weise wieder bemerkbar, wie es keiner vermutet hätte.

Konflikte sind Indikatoren dafür, dass etwas in einer Beziehung oder in einem Beziehungsge­flecht nicht „rund läuft“. Deshalb sollten wir sie nicht als Katastrophen, sondern als Wachstumsknoten ansehen. Zunächst hat es den Anschein, als ob der Konflikt blockiert und sich die Dinge dadurch verschlimmern. Wenn es aber gelingt, ihn in guter Weise zu lösen, gehen wir und die anderen Beteiligten gestärkt aus dem Konflikt hervor. Konflikte sind natürlicher Ausdruck unseres Menschseins. Sie entstehen immer bei unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen. Sie sind also kein „Betriebsunfall“ und auch kein Zeichen dafür, dass etwas bei uns nicht stimmt. Wenn wir uns in unserer Vielfalt an „Wollen, Fühlen und Verstand“ ernst nehmen und annehmen wollen, dann müssen wir auch die dazugehörigen Spannungen und Konflikte akzeptieren.

Zwei Regulatoren, die früheren Generationen in ihrer Konfliktbearbeitung geholfen haben, fallen immer mehr aus: Religion und Tradition. Religion sagt dem Menschen, was Gott von ihm erwartet. Tradition sagt dem Menschen, was die Gemeinschaft, das Kollektiv, von ihm erwartet. Das Verblassen solcher Gebote und Verbote zugunsten individueller Beliebigkeit führt auch im Konfliktfall zu großer Verunsicherung. Was kann und darf ich vom anderen erwarten? Nach welchen Maßstäben tragen wir unsere Interessenskollisionen aus?  Bekommt der Stärkste oder Wortgewandteste Recht? Spricht jemand ein Machtwort? Und wer? Und: Wäre es nicht schön, es gäbe einen „Knigge der Streitkunst“?

Tatsächlich gibt es ihn. Er wurde von Roger Fisher ins Leben gerufen, einem – inzwischen emeritierten – Professor an der Harvard Law School. Die Frage, der er zusammen mit Kolleginnen, Kollegen und Studenten nachging, lautete: Warum werden Konflikte manchmal zur Zufriedenheit aller Beteiligten gelöst und warum scheitern so viele Konfliktparteien in diesem Bemühen? Seine Vorgehensweise war empirisch. Tausende von Konfliktfällen aus allen Bereichen des Lebens wurden zusammengetragen, insbesondere solche, die zu einem versöhnlichen Abschluss kamen. Fündig wurden Roger Fisher und sein Team vor allem in zwei sehr unterschiedlichen Bereichen. Zum einen waren es die Schlichtungsbemühungen der christlichen Kirchen. In den USA hatten z. B. die Mennoniten und die Quäker bewährte Konfliktlösestrategien. Zum anderen konnten die amerikanischen Gewerkschaften auf eine lange Tradition erfolgreicher Konfliktvermittlung zurückblicken.

Spannend und eben auch scheinbar etwas überraschend war das Ergebnis der Untersuchung, das Roger Fisher in seinem schon zum Standardwerk avancierten Buch “Getting to Yes” (Deutsch: Das Harvard-Modell: Sachgerecht verhandeln – erfolgreich verhandeln) 1981 veröffentlichte: Wo auch immer Konflikte erfolgreich gelöst wurden, besaßen sie einige übereinstimmende Prinzipien. Die Einhaltung dieser Prinzipien, so folgerte Fisher, müsste dann im Umkehrschluss zu besseren Konfliktlösungen führen. Und das sind seine Empfehlungen:

Gehe das Problem an, nicht die Menschen!

In Konflikten, denen wir ausgesetzt sind, stempeln wir die “andere” Seite gerne zum Feind, zum Konfliktgegner. Wo wir kritisiert werden, wo Forderungen an uns gestellt werden, fühlen wir uns schnell persönlich bedroht. Diese instinktive Reaktion verdunkelt unseren Blick für berechtigte Anliegen. Wir vermischen die Beziehungsebene mit der Problemebene. Wenn z. B. ein Kollege unser notorisches Zuspätkommen bei Konferenzen anmerkt, könnte unsere spontane Reaktion sein: “Das musst ausgerechnet du sagen! Du, der doch immer...” Wir lassen uns also nicht auf die vorgebrachte Kritik ein, sondern gehen postwendend zum Gegenangriff über. Das Ergebnis eines solchen leicht eskalierenden Streits: zwei Verletzte, zwei Verlierer.

Umgekehrt haben wir es zum Teil selber in der Hand, wie andere auf unsere Kritik reagieren. Eine Formulierung wie: “Das ist wieder einmal typisch, dass du uns mit deinem ewigen Zuspätkommen aufhältst!” muss ja durch seine provozierende Verallgemeinerung im “Gegner” eine feindliche Reaktion auslösen. Wo es uns gelingt, das Problem so zu benennen, dass der oder dem Kritisierten die grundsätzliche Wertschätzung nicht entzogen wird, schaffe ich Raum für konstruktive Gespräche und Lösungsmöglich­keiten. (”Du bist heute wieder sehr spät dran. Ich muss dir sagen, dass mich dein Zuspätkommen ärgert, weil es auf Kosten unserer Zeit geht. Ich wünsche mir, dass wir mit unserer Konferenz pünktlich beginnen können...”)

Nimm die Interessen und Bedürfnisse in den Blick, nicht die Positionen

Eine Konfliktposition ist die Spitze eines Eisbergs. Darunter verborgen sind Emotionen, die gelegentlich hoch schwappen und so sichtbar werden. Vor allem aber ruht sie auf elementaren Bedürfnissen oder Interessen. Wir alle haben Bedürfnisse nach Anerkennung, Wertschätzung, Sicherheit, Sinnhaftigkeit oder Selbstverwirklichung. Aus diesen Bedürfnissen erwachsen Positionen, die sich leicht verfestigen und im Interessenskonflikt in Pattsituationen führen können. Die Rückbesinnung auf unsere zugrunde liegenden “eigentlichen” Bedürfnisse eröffnet neue Möglichkeiten und führt so oft zu kompatibleren Positionen und Konflikt­lösungen.

Suche nach Lösungen zum beidseitigen Vorteil

Dieser Rat erwächst aus den gerade geschilderten Überlegungen. Für viele Konflikte gibt es nicht nur eine einzig mögliche Lösung. Es gibt Lösungen, die die Bedürfnisse beider Seiten berücksichtigen. Um sie zu finden, brauchen wir manchmal mehr Kreativität und Arbeits­schweiß, als wir zu investieren gewohnt sind. Aber nur wenn in einem Streit so viel Verständnis füreinander vorhanden ist – oder durch kluges Verhalten gewachsen ist –, dass die Konfliktgegner wirklich kooperieren, besteht Offenheit für die Suche nach neuen, kreativen Lösungen. Roger Fisher spricht in diesem Zusammenhang von “Lösungen zum beiderseitigen Vorteil” oder von Win-Win-Lösungen”.

Mache deinen Konfliktgegner zum Konfliktpartner

Dieser Rat hilft nicht nur, das Problem zu versachlichen, sondern bezieht das Gegenüber gezielt in das Konfliktlöseprozess ein. “Behandle deinen Konfliktgegner wie einen Richterkollegen, mit dem du zu einem gemeinsamen Urteil kommen musst”, empfiehlt Roger Fisher. Indem ich dem oder der anderen die Fähigkeit zubillige, den Konflikt gemeinsam mit mir zu lösen, schenke ich ihm oder ihr Anerkennung, eines unserer elementarsten Grundbedürfnisse. Gleichzeitig stelle ich sicher, dass die Lösung einvernehmlich und wahrscheinlich auch dauerhaft sein wird. Und schließlich schalte ich von Kampf und Vorteilsdenken auf Kooperation und faire Einigung um. (“Wie könnten wir herausfinden, ob der Preis für dieses Haus angemessen und fair ist?”)

Vereinbare kooperative Kommunikationsregeln

Konfliktlösungen setzen eine Haltung voraus, die sich auch in der Art der Kommunikation niederschlagen muss. Fisher spricht in diesem Zusammenhang von einem wertschätzenden Umgang, der das Ausredenlassen, das Zuhören und das Von-sich-selber-Sprechen („Ich-Botschaften”) beinhaltet. Soweit der Konfliktpartner diese Gesprächsregeln nicht einhält – vielleicht hat sie oder er solche Regeln noch nie mit Streit in Verbindung gebracht – wird empfohlen, sie einzufordern: “Du bist wirklich sehr aufgebracht, das kann ich verstehen. Trotzdem fände ich es gut, wenn wir einander ausreden lassen und zuhören könnten. Meinst du, wir kriegen das hin?”

Es versteht sich von selbst, dass wertschätzende Kommunikationsstrukturen deeskalierend wirken. Voraussetzung ist natürlich die Fähigkeit zumindest einer der Konfliktparteien, solchermaßen selbstdistanziert in einem Streit zu kommunizieren. Darüber hinaus kann es notwendig sein, den Konfliktpartner durch das eigene Vorbild regelrecht zu einer deeskalierenden, lösungsorierntierten Kommunikation anzuleiten.

Und wenn gar nichts mehr geht?

Fisher selbst hat immer großen Wert darauf gelegt, dass seine Prinzipien an ihrer Praktikabilität, an ihrer Praxisbewährung gemessen werden. Als größtes Problem in der Umsetzung stellte sich heraus, dass manche Streitsituation bereits so verfahren oder so weit eskaliert war, dass die Beteiligten die Prinzipien der achtsamen Kommunikation nicht mehr praktisch anwenden konnten. Auch fehlen bis heute vielen Menschen die dazu nötigen, weiter oben beschriebenen kommunikativen Kompetenzen. Als sehr erfolgreiche Antwort auf dieses Problem hat sich die Mediation erwiesen. Mediation ist ein ursprünglich lateinischer Begriff und bedeutet Vermittlung. Ein Mediator ist also ein Vermittler im Konflikt. Streitschlichtung durch Dritte, eben durch Vermittler, gab es zu allen Zeiten. Neu war ein strukturiertes Verfahren, das in genau definierten Schritten dafür sorgte, dass die Konfliktparteien die beschriebenen Harvardprinzipien einhalten konnten. In der Mediation schlägt der Vermittler keine eigenen Lösungen vor, sondern vertraut ganz den Lösungsressourcen der Beteiligten. Sie sind die “Experten des Konflikts” und sie allein entscheiden, ob ihre Lösungen fair, tragfähig und zu beiderseitigem Vorteil sind. Der Mediator ist “lediglich” der Verantwortliche für den Gesprächsprozess. Als “allparteilicher” Vermittler ist er auf das Vertrauen aller Konfliktparteien angewiesen und benötigt neben moderativen und kommunikativen Fähigkeiten ein hohes Maß an Verständnisbereitschaft und Empathie. Als „Reiseleiter“ begleitet er Konfliktparteien auf ihrem neuen Weg achtsamer Kommunikation.